Somatoforme Störung

Somatoforme Störung (ICD-10 V F45)

Die somatoformen Störungen lassen sich in drei Gruppen einteilen:

1 – Somatisierungsstörung (Schmerzstörung) (ICD-10 F45.0)

2 – Hypochondrische Störung (ICD-10 F45.2)

3 – Somatoforme autonome Funktionsstörung / Vegetative Funktionsstörung

(ICD-10 F45.3)

(Ich beschränke mich auf diese drei Störungen).

Allgemeine

Somatisierungsstörungen sind vielgestaltig und die am häufigsten vorkommenden Störungen. Sie werden, wie schon Tölle und Windgassen beschreiben, unter verschiedenen Bezeichnungen diagnostiziert. Laut ICD-10 F45 werden als Oberbegriff somatoforme Störungen klassifiziert. Körperliche Beschwerden liegen ohne medizinischen Nachweis vor, sind aber in psychisch-situativen Zusammenhängen zu sehen. „Somatoform“ bedeutet demnach „in körperlicher Form in Erscheinung tretend“. (Tölle R, Windgassen K, 2009)

Hauptmerkmale von somatoformen Störungen werden von den Patienten als körperliche Beschwerden beschrieben, die bei ärztlicher Untersuchung nicht auf eine Organerkrankung zurückzuführen sind. In dieser Störung kann, wie schon Deister betont, jedes Organ betroffen sein. Die Folgen können gravierend sein, weil Vielgestaltigkeit verschiedener Symptome vorliegt. So sind viele Untersuchungen notwendig, eventuell auch in der Folge mit Operationen. Bis der Patient einen Psychiater aufsucht vergehen oftmals einige Jahre. Häufig jedoch gehen die Betroffenen nicht zum Psychiater. Das führt zu akuten und chronischen Zuständen. Die somatoforme Störung, die auch psychogene Störung genannt wird, erfordert eine spezifische diagnostische und therapeutische Strategie (Deister A, 2005).

Differentialdiagnose

Wie schon Dilling et. al. beschreiben, ist die Abgrenzung zum hypochondrischen Wahn durch die Vielfalt der Symptome schwierig. Hilfreich ist es daher, wenn der Arzt den Patienten gut kennt und der Patient über ein gutes Maß an Selbsterkenntnis verfügt. Es ist nicht bestritten, dass vom Patienten das Wissen von seinen Symptomen als unangenehm empfunden wird.

(Dilling H, Mombour W, Schmidt M H, 2008)

   

Erscheinungsbild

Es gibt, wie schon Deister beschreibt, eine Vielfalt an Symptomen: Erschöpfung, Schmerzsymptome, Herz-Kreislaufbeschwerden, sexuelle und pseudoneurologische Symptome, Störungen des Verdauungstrakts (gastrointinale Beschwerden), Übelkeit und Unterleibsbeschwerden, Darmbeschwerden, kardiopulmonale Symptome (Herzklopfen oder Brustschmerzen) und andere diffuse Schmerzen.

Oftmals finden die Betroffenen erst nach mehreren Jahren den Weg zum Psychiater, da ihre organischen Beschwerden durch zahlreiche vorangegangene Untersuchungen und Operationen keine Besserung fanden. (Deister A, 2005)

9.3.1 Wechselbeziehung von psychosozialem Stress, Persönlichkeit, Affektivität und Krankheitskonzept

Abb. 14: Wechselbeziehung von psychosozialem Stress, Persönlichkeit, Affektivität und Krankheitskonzept

Modifiziert übernommen aus: Möller H J, Laux G, Deister A, 2005, S. 255

Im weiteren Sinn handelt es sich um einen schwierigen Dialog zwischen Patient und Therapeut. Der Patient ist überzeugt von seinen organischen Beschwerden. Die Ursachen kennen er und sein  gesellschaftliches Umfeld meistens nicht. Wie schon Dilling et. al. beschreiben, ist das aufmerksamkeitssuchende (histrionische) Verhalten des Patienten stark ausgeprägt. Die Betroffenen reagieren empfindlich, wenn es ihnen nicht gelingt, den Arzt, von der Erkrankung wie sie sie sehen, zu überzeugen (Dilling H, Mombour W, Schmidt M H, 2008).

Historisches

Die somatoformen Störungen tragen in älteren diagnostischen Konzepten und nosologischen Systemen verschiedene Bezeichnungen. Die sogenannte „Hysterie“ war schon im alten Griechenland bekannt. Bei Störungen die „unter den Rippen“ vermutet wurden, handelte es sich um den Begriff der Hypochondrie. Im 17. Jahrhundert setzte Sydenham beide Begriffe in Beziehung zueinander. Paul Briquet sah in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Hysterie als polysymptomatische Erkrankung. In den letzten Jahrzehnten wurden die unterschiedlichsten Begriffe wie „psychosomatischer Beschwerdekomplex“, „psychovegetatives Syndrom“ und „vegetative Dystonie“ mit unterschiedlichster Bedeutung dafür verwendet.

(Deister A, 2005, S. 254)

Epidemiologie

Die Zahl der Neuerkrankungen innerhalb eines Jahres beträgt 13 %. Frauen trifft es im Verhältnis zu Männern 2:1 häufiger. Von den Patienten eines Allgemeinen Krankenhaus sind 17–30 % von diesen Störungen betroffen, etwa ein Drittel davon aus einer neurologischen Abteilung. Wie schon Frauenknecht und Brunnhuber erklären, sind Rücken- und Kopfschmerz die häufigste Form der somatoformen Störung. Bei zwei Drittel der Betroffenen tritt sie als Komorbidität ihrer Grunderkrankung auf, insbesondere depressive Syndrome. Man sollte hier zwischen affektiver Störung und somatischer Symptomatik klar unterscheiden, möglichweiser liegt aber auch eine depressive Episode mit körperlicher Symptomatik („larvierte Depression“) vor. Gleichzeitig liegt oft die Diagnose eines Substanzmissbrauches / einer Abhängigkeit, Persönlichkeitsstörung, Phobie, oder Panikstörung vor.

Oft tritt die somatoforme Störung im Jugendalter auf und manifestiert sich im dritten Lebensjahrzehnt, kann allerdings genauso in jedem anderen Alter auftreten. Etwas später zeigt sich die somatoforme Schmerzstörung fast immer zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr. (Frauenknecht S, Brunnhuber S, 2008)

Ätiopathogenese

Es besteht die Vermutung, dass unterschiedliche pathogenetische Faktoren zusammenwirken, z.B treten in psychoanalytischen Verfahren unbewusste Konflikte in der Körpersprache zu Tage. Im neurobiologischen Modell zeigen sich somatoforme Störungen verstärkt bei Verwandten ersten Grades.

Gründe für Entstehung somatoformer Störungen:

– Identifikation mit betroffenen nahestehenden Personen

– Selbstunsichere Persönlichkeitsstrukturen betroffener Personen

– Individuelle Anfälligkeit bestimmter Organe

– Bei Überforderung durch Stress, körperlichen und seelischen Belastungen über einen längeren Zeitraum

– Kritische Lebensphasen, körperliche Erkrankung oder Trennung sind, wie schon Frauenknecht und Brunnhuber beschreiben, oftmals Auslöser für somatoforme Störungen. (Frauenknecht S, Brunnhuber S, 2008)

Symptomatik 

Müdigkeit wird von gesunden Menschen als angenehm empfunden. Wie schon Tölle und Windgassen beschreiben, sind erschöpfte Menschen hingegen hektisch und gespannt und das zeigt sich in Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Konzentrationsschwäche, Leistungsschwäche, Bedrücktsein, Stimmungsschwankungen, Lustlosigkeit und verdrießlicher Stimmung. Dazu kommen ein benommener, unfreier Kopf, unsystematischer Schwindel, klopfender Kopfschmerz, Schlafstörung, vor allem Einschlafschwierigkeiten, unruhiger Schlaf, Flimmern vor den Augen, feines Zittern der Finger, unangenehme Empfindung des beschleunigten Pulses / Extrasystolen, andere Herzbeschwerden ohne organischen Befund, Impotenz, Durchfall oder Obstipation und Magenbeschwerden. (Tölle R, Windgassen K, 2009)

                                                   

 Verschiedene Symptome von somatoformen Störungen

Abb. 15: Verschiedene Symptome von somatoformen Störungen

Modifiziert übernommen aus: Möller H J, Laux G, Deister A, 2005, S. 256

Somatisierungsstörung und Symptome

Somatisierungsstörung und Symptome (ICD-10 F45.0)

Differentialdiagnose

Ängstliche und affektive depressive Störungen:

Angst und Depression in unterschiedlichen Schweregraden gehen, wie schon Deister beschreibt, (Deister A, 2005) mit Somatisierungsstörungen einher. Man muss hier nicht extra diagnostizieren. Nur im Fall eines dauerhaften Zustandes, der im Vordergrund steht, muss eine zusätzliche Diagnose erstellt werden (Angst/Depression). Nach dem 40. Lebensjahr lassen multiple körperliche Symptome auf eine beginnende Depression schließen.

 Körperliche Störungen:

Wie schon Deister erwähnt, kann bei einer chronischen Somatisierungsstörung angenommen werden, dass sich eine körperliche Krankheit im Laufe der Jahre entwickelt (z.B Übersäuerung/Gastritis des Magens führt später zu einem Magengeschwür).

– Weigerung des Patienten, den Rat und die Versicherung der Ärzte gesund zu sein, zu akzeptieren. Den vorhandenen Symptomen liegen keine körperlichen Erkrankungen zu Grunde.

– Die Überzeugung vom Vorhandensein einer oder mehrerer Erkrankungen, trotz zahlreicher ergebnisloser Untersuchungen. Beschäftigung mit Vermutungen zur Entstehung dieser Erkrankung.

– Die Zeitdauer der Störung beträgt mindestens ein halbes Jahr.

– Trotz organischer Unauffälligkeit herrschen multiple körperliche Symptome.

– Das aus dieser Störung resultierende Verhalten beeinträchtigt das soziale und familiäre Umfeld.

– Das Erscheinungsbild der Symptome kann sich auf jeden Körperteil sowie auf jedes Körpersystem beziehen. (Deister A, 2005)

Somatisierungsstörung und Symptome nach DSM-IV

Körperliche Beschwerden treten vor dem 30. Lebensjahr auf, dauern über Jahre hinweg, beeinträchtigen das berufliche und soziale Umfeld.

Die folgenden Kriterien müssen, wie schon Deister betont, (Deister A, 2005)

vorhanden gewesen sein. Wichtig ist, dass einzelne Symptome bei verlaufender Störung aufgetreten sein müssen:

– Pseudoneurologisches Symptom, vier Schmerzsymptome, die vier verschiedene Körperbereiche betreffen.

– Außer Schmerzen, zwei gastronintestinale Symptome

– Außer Schmerzen, ein sexuelles Symptom

Gastrointestinale Symptome:

Unverträglichkeit von Speisen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Völlegefühl.

 Schmerzsymptome

Kopfschmerzen, Schmerzen beim Urinieren, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und während der Menstruation, Gelenkschmerzen, Schmerzen in der Brust oder im Rektum und den Extremitäten, Rückenschmerzen und Abdominalschmerzen.

                                 

Sexuelle und gynäkologische Symptome

Sexuelle Gleichgültigkeit, unregelmäßige Menstruation, oft mit verstärkter Blutung, öfteres Erbrechen während der Schwangerschaft, Ejakulationsstörungen, Erektionsstörungen.

Pseudoneurologische Symptome

Krampfanfälle, Gleichgewichts- bzw. Koordinationsstörung, Aphonie, Kloßgefühl im Hals, lokalisierte Muskelschwäche oder Lähmung, Schluckschwierigkeiten, Harnverhaltung, Blindheit, Taubheit, Sehen von Doppelbildern, Halluzinationen, Schmerzempfindung oder Verlust der Berührungsempfindung.

Somatisierungsstörung

Somatisierungsstörung (ICD-10 F45.0)

Über Jahre hinweg bestehen wiederholt auftretende und wechselnde Symptome mit dem Ergebnis einer komplizierten bzw. oftmals negativen Untersuchung in verschiedenen medizinischen Einrichtungen. Auch ergebnislose Operationen liegen vor. Wie schon Dilling et. al. beschreiben, äußern sich die am häufigsten empfundenen gastrointestinalen Beschwerden in Übelkeit, Aufstoßen, Erbrechen, Rumination, Schmerz. Außergewöhnliche Hautempfindungen zeigen sich in Brennen, Prickeln, Jucken Wundsein, Taubheitsgefühlen und Ausschlag. Auch Menstruations- und Sexualitätsbeschwerden liegen häufig vor, sowie Angst und Depression. Der Verlauf der Beschwerden ist chronisch und beeinflusst auch das soziale Umfeld. Patienten werden arbeitsunfähig. Die aufgezählten Symptome sind bei Frauen häufiger anzutreffen als bei Männern und beginnen meist in der frühen Adoleszenz. (Dilling H, Mombour W, Schmidt M H, 2008)

Diagnose

– Wenn mindestens zwei Jahre hindurch ohne medizinischen Befund multiple organische Beschwerden vorliegen,

– eine Beeinträchtigung im Umgang mit Gesellschaft und Familie durch das Leid und das daraus resultierende Verhalten vorliegt,

– der Patient davon überzeugt ist körperlich erkrankt zu sein, er sich weigert seelische Ursachen anzuerkennen und sich die Besuche und Untersuchungen bei verschiedenen Ärzten häufen.

Modell einer Diagnose bei somatoformen Störungen

Abb. 16: Modell einer Diagnose bei somatoformen Störungen.

Modifiziert übernommen aus: Möller H J, Laux G, Deister A, 2005, S. 263

Hypochondrische Störung

Hypochondrische Störung (ICD-10 F 45.2)

Differentialdiagnose:

Wichtig bei dieser Störung sind, wie schon Dilling et. al. betonen, die Individualität der Symptome und das Erkennen der Auswirkungen. Auf das Vorhandensein ernsthafter Psychodynamik und ihrer Krankheitsauswirkung muss geachtet werden. Der Patient legt Wert auf umfangreiche Untersuchungen (Dilling H, Mombour W, Schmidt M H, 2008).

Die Ergebnisse daraus sollen die Vermutungen des Patienten bestätigen. Hier äußert sich der Wunsch nach einer Behandlung um die Symptome zu beseitigen. Auch ein übertriebener Medikamentenkonsum ist zu beobachten. Die Compliance während der Therapie fehlt. Der Patient misstraut den verordneten Medikamenten und fürchtet eventuelle Nebenwirkungen. Trotzdem sucht er Beruhigung in häufigen Arztbesuchen (Dilling H, Mombour W, Schmidt M H, 2008).

Erscheinungsbild aus subjektiver Sicht

Wie schon Deister beschreibt, beschäftigen sich die betroffenen Patienten beharrlich mit der Möglichkeit organisch krank zu sein. Subjektiv gesehen werden die Beschwerden als außergewöhnlich belastend interpretiert. Betroffene haben übermäßige Angst an weiteren Erkrankungen zu leiden. Die berufliche Leistungsfähigkeit und soziale Beziehungen sind beeinträchtigt durch die ständige Beschäftigung mit den Beschwerden. “Doctor-shopping“ gehört zum Verhaltensmuster der Betroffenen. Ständiger Arztwechsel gehört zum Alltag. Schließlich wird die Überweisung zum Psychiater als unangenehm und kränkend empfunden. (Deister A, 2005)

 Sichtweise der Patienten

Der Patient ist im Stande seine vermeintliche Krankheit genauer zu benennen (z.B. bösartiger Tumor, Magenkrebs, AIDS) und jede körperliche Missempfindung bestätigt seine Meinung. Nach eingehenden Untersuchungen werden diese vom Patienten beschriebenen Symptome von den Befunden nicht bestätigt.

Wie schon Frauenknecht und Brunnhuber erläutern, kommt es bei Studenten der Medizin besonders in der klinischen Phase zum Phänomen der “Medical Student’s Disease“. Organische Erkrankungen werden vermutet, besonders häufig diejenigen, die gerade Gegenstand des Studiums sind. Das neue medizinische Wissen bringt eine verstärkte Zuwendung der Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenüber mit sich. (Frauenknecht S, Brunnhuber S, 2008)

Diagnose Hypochondrische Störung

Diagnose Hypochondrische Störung (ICD-10 F 45.2)

Die hypochondrische Störung ist gekennzeichnet von einer extremen Besorgtheit um den eigenen Körper und von quälenden Phantasiebildern. In diesem Fall handelt es sich nicht um Hypochondrie als Krankheit, sondern um das Erscheinungsbild eines Syndroms.

Subjektive Empfindungen

Die ängstliche Einstellung betrifft die Sorgen um die Harn- und Geschlechtsorgane, Magen-Darmtrakt, Herz, Gehirn und Rückenmark. Die Angst und daraus entstehende Stresshormone bewirken, wie schon Tölle und Windgassen erklären, eine Dysfunktion des vegetativen Nervensystems. Dies führt im Weiteren zu einer Verstärkung des hypochondrischen Symptoms (circulus vitiosus). Die extreme Sorge des Patienten kann an tatsächlich vorhandene körperliche Organsymptome anknüpfen. Diese hypochondrische Fehlhaltung (Überbewertung) rückt die Neigung des Patienten bedenklich in die Nähe zu einer Phobie. Zu beachten ist, dass jeder Mensch hypochondrische Züge in sich trägt. Hypochondrische Personen leiden aber möglicherweise auch einmal an einer ernsthaften Krankheit. (Tölle R, Windgassen K, 2009)

Zugehörige Begriffe:

– Nosophobie

– Dysmorphophobie

– körperdysmorphe Störung

– Hypochondrie

– hypochondrische Neurose

(Dilling H, Mombour W, Schmidt M H, 2008)

Diagnose Hypochondrische Störung nach DSM-IV

– Die Beschäftigung des Patienten mit seiner Krankheit wird ernst genommen und die entsprechenden medizinischen Untersuchungen werden veranlasst. Die Ergebnisse zeigen sich unauffällig und werden vom Arzt zur Beruhigung des Patienten bestätigt.

– Durch Fehlinterpretation körperlicher Symptome von Betroffenen erfolgt eine übermäßige Beschäftigung mit der Idee an einer ernsthaften Krankheit zu leiden.

Epidemiologie

Ein Großteil der Allgemeinmediziner und Internisten stellen, wie schon Deister beschreibt, (Deister A, 2005) Störungen in ihren Diagnosen fest.

Somatisierungsstörung: Diese vegetative Funktionsstörung betrifft die Frauen häufiger als Männer. In Allgemeinkrankenhäusern beträgt der Anteil der Betroffenen zwischen 20 und 40 %, in den Praxen der Hausärzte ca. 10% und bei der Allgemeinbevölkerung in etwa 4%. Die häufigste somatoforme Störung ist die vegetative Funktionsstörung.

Somatoforme Schmerzstörungen: kommen familiär gehäuft vor, betreffen Männer und Frauen gleichermaßen.

Hypochondrische Störungen: betreffen 4–6 % der Allgemeinbevölkerung, sie betreffen Männer und Frauen zu gleichen Anteilen.

Somatoforme autonome Funktionsstörung

Somatoforme autonome Funktionsstörung (Vegetative Störung) (ICD-10 F45.3)

Die Patienten beschreiben ihre Symptome als rein körperliche Erscheinungsformen. Tatsache ist jedoch, dass, wie schon Dilling et. al. beschreiben, die körperlichen Symptome vom vegetativ (autonom) gesteuerten Nervensystem, kardiovaskulären, gastrointestinalen sowie respiratorischen System herrühren. Das Urogenitalsystem ist ebenfalls betroffen. Die häufigsten Beschwerdeformen kommen als Störung des kardiovaskulären Systems (Herzneurose), des respiratorischen Systems (psychogene Hyperventilation) und des gastrointestinalen Systems (Durchfall und Magenneurose) vor.

Bei der Diagnose ist es hilfreich zwei Symptomgruppen zu kennen, die nicht typisch für Organsymptome sind.

Die erste Gruppe umfasst idiosynkratische, subjektive und unspezifische Symptome wie Brennen, Enge, Schwere, Gefühl von fließenden Schmerzen oder Auseinandergezogenwerden. Die zweite Gruppe zeigt durch Stimulation des vegetativen Nervensystems hervorgerufene Symptome wie Zittern, Erröten, Schwitzen, Herzklopfen.

Diese Störungen basieren auf vegetativen Störungen. Aus Sicht des Patienten ist die Erkrankung eines Organs schuld an seinen Beschwerden. Den betroffenen Patienten lassen sich oftmals psychische Belastung mit Problemen und Schwierigkeiten zuschreiben. (Dilling H, Mombour W, Schmidt M H, 2008)

Diagnose

Um eine genaue Diagnose erstellen zu können, müssen alle diese Kriterien, wie schon Dilling et. al. betonen, erfüllt sein:

– Kein Hinweis auf eine Organ- bzw. Organfunktionsstörung.

– Subjektives Krankheitsempfinden bezogen auf nur ein bestimmtes Organ.

– Krankhaftes Festhalten des Patienten an der Vorstellung eine Organerkrankung zu haben, dies trotz Versicherung des Arztes gesund zu sein.

– Andauernde Auswirkungen vegetativer Stimulation wie Erröten, Schwitzen, Herzklopfen und Zittern. (Dilling H, Mombour W, Schmidt M H, 2008)

 

Therapie

Psychotherapien, insbesondere kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze, zeigen besonders Wirkung bei körperdysmorphen und hypochondrischen Störungen. Bei anderen Störungen zeigt diese Behandlungsform weniger Wirkung. Positive Effekte sind bei gastrointestinaler und somatoformer Schmerzstörung zu verzeichnen.

Elemente einer kognitiven-behavioralen Psychotherapie / spezifisches Therapieprogramm:

Beziehungsaufbau:

Wie schon Frauenknecht und Brunnhuber betonen, ist es wichtig, dass der Patient seine Beschwerden schildert und der Therapeut aufmerksam zuhört, seine Wertschätzung ausdrückt und eine emphatische Haltung einnimmt.

(Frauenknecht S, Brunnhuber S, 2008)

Motivation zur Therapie

Psychotherapeutische Ansätze dem Patienten erklären, die Wirkung (z.B Muskelrelaxation nach Jacobson zur Linderung der Schmerzen, wichtig auch der Stressabbau) vor Augen führen. Ziele gemeinsam vereinbaren.

Symptombewältigung

Entspannungsverfahren erlernen (z.B.: progressive Muskelrelaxation), Ablenkung durch diese Übungen, Symptomtagebuch zur Selbstbeobachtung der Symptome führen.

 

Ausarbeitung eines allgemeinen Krankheitsmodells

Das Leid des Betroffenen akzeptieren durch Intervention (z.B Biofeedback-Methoden, Verhaltensexperimente, Zusammenhänge zwischen Psyche und Körper durch wissenschaftliche Methoden erklären.

Dysfunktionale Gedanken analysieren und verändern

Protokollführung über dysfunktionale Überzeugungen, die die Krankheit betreffen.

Abbau von sozialem Rückzug und schädigendem Verhalten:

Der Patient soll angehalten werden für ihn sinnvolle Aktivitäten zu finden und soziale Beziehungen wieder zu pflegen, sportliche Aktivitäten auszuüben und schrittweise Verantwortung zu Hause und auch im Beruf zu übernehmen.

Stressabbau und Motivation zur Lebensfreude:

Strategien zur Problemlösung erlernen, Aufbau von Hobbys, Stressbewältigungsstrategien.

Organmedizinische Interventionen und Reduktion von krankheitsbezogenen Interaktionen

Den Patienten dazu anleiten Häufigkeit und Art von somatischen Interventionen abzusprechen. Ziel dieser Maßnahme ist die gänzliche Unterlassung von Rückversicherungen.

Medikamentenmissbrauch abbauen

Nebenwirkungen von Medikamenten dem Patienten bewusst machen und die Gefahr der Abhängigkeit aufzeigen (z.B: Langzeiteinnahme von Paracetamol gegen Kopfschmerz führt zu einem paradoxen Effekt).

(Frauenknecht S, Brunnhuber S, 2008)

Praxistipps für psychosomatische Behandlungen

– Beachtung von funktionalen Störungen

– Vermeidung von unnötigen Untersuchungen

– Akzeptanz der Beschwerden des Patienten

– Präzise therapeutische Ziele mit Formulierung von Teilzielen

– Vermeidung den Patienten zu früh mit psychologischen Störungsmodellen zu konfrontieren

– Kooperation und Informationsaustausch mit Hausarzt und Therapeuten anderer Fachgebiete

– Wichtig: Motivation zur Therapie

Pharmakologie

Es liegen, wie schon Frauenknecht und Brunnhuber beschreiben,

nur wenige gesicherte Ergebnisse zur medikamentösen Behandlung von somatoformen Störungen vor.

– Serotonin-Wiederaufnahmehemmer bei körperdysmorphen und hypochondrischen Störungen mit effektiver Wirkung.

– Opipramol (trizyklisches Piperazinyl-Derivat, Anxiolytikum) bei Behandlung von somatoformer autonomer Störung und Somatisierungsstörungen.

– Trizyklische Antidepressiva in niedriger Dosis (Amitriptylin 10–75 mg) bei Behandlung von somatoformer Schmerzstörung. Neuroleptika und Benzodiazepinpräparate sollten wegen ihrer Nebenwirkungen vermieden werden (extrapyramidialmotorische Symptome, Abhängigkeitsentwicklung) (Frauenknecht S, Brunnhuber S, 2008)

 

Prognose

Der Verlauf somatoformer Störungen ist meist chronisch. Selten kommt es zu Spontanremissionen. Das Bild der Störungen im sozialen/beruflichen und körperlichen Bereich variiert stark von Fall zu Fall.

Ungünstige Prognose:

Folgende Faktoren haben negative Auswirkungen: hoher sekundärer Krankheitsgewinn, Klammern an der Überzeugung einer organischen Genesung, Symptome treten nicht im Zusammenhang mit belastenden oder Angst machenden Erlebnissen auf.

(Frauenknecht S, Brunnhuber S, 2008)

Günstige Prognose

Aus psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Sicht haben, wie schon Ermann beschreibt, 65 % der Patienten die Chance auf eine anhaltende Besserung.

Die Ergebnisse hängen ab:

– vom Erscheinungsbild der sekundären Verarbeitung

– vom Therapiebeginn, je früher, desto besser die Chancen auf Heilung (Ermann M, 2004).

 Aus psychoanalytischer Sicht

Die analytischen Verfahren beinhalten verschiedene Formen:

– Konflikte aufarbeiten, auslösende Belastungen beseitigen, Psychopharmaka kommen manchmal in Kombination mit imaginativen Verfahren zur Anwendung.

– Analytische Gruppentherapie lässt gute Erfolge erzielen, weil sich hier soziale Konflikte und narzisstische Züge innerhalb der Gruppe gut aufarbeiten lassen.

– Ein stationärer Aufenthalt wird empfohlen, um die Behandlungsmotivation zu stärken.

– Motivation der Patienten zur Analyse ist unumgänglich um ins Unbewusste zu gelangen, da  alle Ursachen einer Störung ab ihrer Entstehung verdrängt werden. Im Verlauf dieses Prozesses erkennt der Patient seine unbewussten Anteile und nimmt sein Problem und sein Leid an.

– Der Patient sollte nicht ausschließlich Beachtung und Zuwendung von seinen Angehörigen erfahren. Verwöhnendes Verhalten und Mitleid mit dem Betroffenen sowie die Befriedigung neurotischer Bedürfnisse unterstützen dessen Syndrome und stärken sie.

– Zu überlegen ist eine Familientherapie im Vorfeld der eigentlichen Behandlung. (Ermann M, 2004)

– Ich persönlich bin sicher, dass das Erkennen und die Annahme von Leid der Weg zur Heilung ist.

Aus verhaltenstherapeutischer Sicht

Auf der physiologischen Ebene kommt es zu vielen Anwendungen, wie schon Ermann erwähnt (Ermann M, 2004):

– Biofeedback und Reizüberflutung, Entspannungsübungen, systematische Desensibilisierung und kognitive Umstrukturierung, u.a.

 Taktile Wahrnehmungsprozesse bei somatoformen Störungen

Katzer A, Oberfeld D, Hiller W, Gerlach A und Witthoft M, von der Johannes Gutenberg Universität Mainz und der Universität Köln, zeigen in ihrer gemeinsamen Studie (2011), den Zusammenhang zwischen taktilen Wahrnehmungsprozessen mit somatoformen Störungen auf.

Es wurden 32 gesunde und 33 Teilnehmer mit somatoformen Störungen untersucht. Ziel der Untersuchung war, festzustellen, ob die Wahrnehmungsschwelle bei Personen mit somatoformen Störungen niedriger ist, als bei den gesunden Kontrollpersonen. Im Mittelpunkt der Studie stand der Tastsinn der untersuchten Personen und zwar die Reaktionszeit auf einen Stimulus an den Fingerspitzen. Ein zusätzlicher visueller Stimulus wurde bei der Kontrollgruppe gegeben.

Durch Lichtreize wurde eine Verbesserung des Tastsinns beider Gruppen erreicht. Dieses Ergebnis wurde in der zweiten Hälfte der Testzeit erzielt. In der Gruppe der Erkrankten gab es Hinweise auf die Effekte des Wahrnehmungstastsinnes und insbesondere pseudoneurologische Symptome. Bei der Messung der Gruppe mit somatoformen Störungen liegt der Signifikant mit r= 0,86 niedriger. Im Vergleich zur gesunden Gruppe wurde die Wahrnehmung positiv bestätigt. Bei der Gruppe mit somatoformen Störungen wird die Verteilung der Symptome durch kognitive Modelle beeinflusst (Katzer A, Oberfeld D, Hiller W, Gerlach A L, Witthöft M, 2012).